„Das schwarze Loch war da und ich mittendrin“

Julia erzählt, wie sie nach der Diagnose zu sich selbst gefunden hat.

 
Julia ist 30 Jahre alt, als sie die Diagnose Lipödem erhält. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits eine 17-jährige Leidenszeit hinter sich. Alles begann, als Julia in die Pubertät kam. Seitdem konnte sie förmlich dabei zusehen, wie ihre Beine immer dicker und unförmiger wurden. Weil sie viel gemobbt wurde, begann sie damals auch mit ihrem „größten Hobby“, dem Abnehmen, und entwickelte ein Essverhalten, das sie rückblickend selbst als gestört bezeichnet. Das äußerte sich einerseits durch leidenschaftliches Kalorienzählen, Selbstkasteiung und Hass auf sich selbst, andererseits aber auch durch Fressattacken, wenn sie unzufrieden war und es ihr besonders schlecht ging. Zeitgleich zog sie sich immer mehr zurück.

Auf der Suche nach Veränderung stolpert sie 2017 über ein Stellenangebot: Gesucht wird eine Fachkraft im Sanitätshaus. Damals ahnt sie noch nicht, dass der Jobwechsel die entscheidende Wendung in ihrem Leben bringen wird. Schon beim Vorstellungsgespräch erhält sie von ihrer späteren Chefin den Tipp, sich einmal von einem Spezialisten untersuchen zu lassen. So kommt der Stein ins Rollen.
Foto: Diana Krüger, Hohenstein-Ernstthal
 
 

"Endlich hat jemand erkannt, dass ich ein Problem habe."

 

Als Fachkraft im Sanitätshaus kann sie zwar einschätzen, was auf sie zukommt, hat aber gleichzeitig große Angst davor. An den Tag, an dem sie ihre erste Kompressionsversorgung mit nach Hause nimmt, wird sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern: „Als ich die Strumpfhose nach vielen Pausen und Schimpfworten endlich anhatte, saß ich nur noch da und weinte. Auf einmal musste ich mich mit dem beschäftigen, was ich so sehr an mir hasste und was ich immer versuchte zu verstecken.“

Zu Beginn fühlt sie sich eingeengt von der Kompression und gefangen in ihrem Körper. Laufen und Treppensteigen fällt ihr schwer, alles rutscht, schneidet ein und macht komische Geräusche – überhaupt ist alles furchtbar für sie.

 

"Das schwarze Loch war da und ich mittendrin."

 
 
Foto: Diana Krüger, Hohenstein-Ernstthal

Dank ihres Umfelds schafft sie es, sich langsam wieder aus dem Loch zu befreien. „Jeder hat total verständnisvoll reagiert, ich bekomme unaufgefordert einen Hocker hingestellt und muss mich nicht, wie früher, in enge Gartenstühle zwängen.“ Auch ihre Freunde greifen ihr unter die Arme, wo es geht: Sie nehmen sie mit zum Shoppen, machen ihr Komplimente, schleppen ihr ein Kleidungsstück nach dem anderen in die Umkleidekabine. Dann schließlich passiert etwas, was sie zu dem Menschen macht, der sie heute ist: „Aus diesen ganzen negativen Gedanken und Dingen wurde etwas Positives, ich erkannte allmählich die Vorteile darin und fand mich okay.“

Heute ist sie stolz darauf, diesen ersten Stein von vielen aus dem Weg geräumt zu haben. Shoppen ist für sie längst keine Qual mehr, sie kauft leidenschaftlich gern neue Kleider: „Seit der Diagnose besteht mein Kleiderschrank zu 80 Prozent aus Kleidern. Inzwischen habe ich eine stolze Sammlung von 59 Kleidern und ich liebe jedes Einzelne davon. Alle meine Kleider erinnern mich an Erlebnisse, traurige und lustige Momente, die mir dabei geholfen haben, mich selbst zu lieben.“ Die Kompression ist ein Teil ihres Alltags geworden. Sie trägt sie sehr konsequent, „außer an Tagen, an denen ich einfach mal die Sonne auf den Beinen spüren möchte“. Dennoch fühlt sich Julia eingeschränkt durch die Krankheit und kämpft jeden Tag dafür, sich nicht davon beherrschen zu lassen. Damit sie nicht wieder in ein Loch fällt, ist sie seit einigen Jahren auch in therapeutischer Behandlung. In der Therapie arbeitet sie ihre Vergangenheit auf und hat so auch ihre Essstörung in den Griff bekommen.

 

Wie sie im Job von ihrer Erkrankung profitiert

Mut und Kraft schöpft Julia durch ihre Arbeit im Sanitätshaus, bei der sie tagtäglich mit anderen Betroffenen in Kontakt kommt. Durch ihre eigene Geschichte kann sie sich gut in die Kunden hineinversetzen und sie besonders einfühlsam beraten.
Sie weiß genau, wie sich Lipödempatienten fühlen und was es heißt, Kompression zu tragen – nicht nur, weil man die Farben schön findet, sondern, weil man muss. Und dass sie einen harten Kampf führen mussten, bis sie die Diagnose erhalten haben. Viele haben einen Ärztemarathon hinter sich, wurden jahrelang gemobbt, waren ihr größter Feind und haben sich selbst verloren. „Gott sei Dank!“ hört sie sehr oft, wenn die Tür aufgeht und die Kunden sie sehen. „Immer, wenn eine neue Kundin mit Tränen in den Augen und einem Rezept in der Hand vor mir steht, weiß ich, dass ich sie da auffangen muss, wo ich damals in das schwarze Loch gefallen bin.“ Sobald die Kunden dann erfahren, dass sie selbst betroffen ist, löst sich die Anspannung und sie schenken ihr Vertrauen.

 

Das ist Julias Botschaft an die Lipödem-Community:

„Setz dich bewusst mit dem auseinander, was du am meisten an dir hasst. Du musst nicht gleich Freundschaft mit deinen Beinen schließen, aber akzeptiere ihr Dasein! Nur so erreichst du, dass dich die Krankheit nicht beherrscht.
Informiere dich über das Krankheitsbild und den -verlauf. In guten Sanitätshäusern, Physiotherapiepraxen und auch bei diversen Ärzten erhält man auf viele Fragen auch viele Antworten. Es gibt Selbsthilfegruppen, die sich regelmäßig treffen. Man profitiert voneinander, kann sich austauschen und gemeinsam lachen.
Nach den ersten 14 Tagen hat man sich an das neue Beinkleid gewöhnt und man wird auch das Positive wahrnehmen. Nutz die Energie, lass sie zu und freu dich über die Komplimente. Denn diese Komplimente werden kommen, sobald der erste neue Rock oder Kleid deine Beine umspielt.
Du bist viel mehr als das was du von dir denkst! Du bestehst nicht nur aus unförmigen Beinen oder Armen, du hast unheimlich viele schöne Eigenschaften an dir.“

Foto: Diana Krüger, Hohenstein-Ernstthal

 

 


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